Auch Stuttgart hat sein Künstlerlokal

Sie ist so blond und schön


Über die Widmerin und ihre Gäste kann man mehr als nur eine Geschichte erzählen


Die meisten reden sie einfach und normal mit "Frau Widmer'' an. Eine mit ihr vertraute Minderheit sagt "Emma". Einige Auserwählte rufen sie "Mammi". An einem Finger sind die abzuzahlen, die "Meli" hauchen dürfen. Zu fast allen ihren Gästen aber hat die Wirtin von der Weinstube Widmer ein markig-persönliches Verhältnis.


Ach, Meli, wenn es Sie und Ihre Wirtschaft nicht gäbe, dann wäre so mancher Abend ein Trauerspiel. Das sagt nicht nur einer Ihrer Ergebensten und Treuesten. So mancher Schauspieler und Journalist und Student und Buchhändler käme wohl nach kürzester Überlegung zu demselben Ergebnis. Es ist eben so: Man kommt rein, guckt, sieht den einen oder die andere oder auch mehrere und weiß, daß einen die nächsten zwei bis drei Stunden nicht tödlich langweilen werden. Und warum wohl nicht? Weil nahezu sämtliche Gesprächstöne möglich sind.


Es müssen nur die richtigen Leute da sein, und die sind meistens da, Leute mit einer hohen Toleranzquote, legere Typen, Phantasten und Präzisions-lntellektuelle. Ich kenne in dieser Stadt sonst kein Lokal, in dem hauptsachlich zwischen 22 Uhr und zwei Uhr die unterschiedlichsten Temperamente aktiv werden, sich die Zunge wund reden über Wehmeiers Che Guevara-Inszenierung, über die Vorschulerziehung oder das Liebesleben der Linksradikalen oder darüber, ob der Spiegel nun wirklich ein Kapitalistenblatt sei. Dort bei der Widmerin werden rhetorische Gefechte mit Säbel, Holzhammer und Florett geschlagen. Das Material liefern private Pleiten und Krönungen, persönliche Zicken und Trends in Kunst und Politik. Und wenn dann mitten in der hitzigsten Debatte auf einmal die Meli dasteht und sagt: "Jetzt schwätzet doch net en solcha Dreck", dann wird schon klar, daß die allzu eifernden verbalen Kundgebungen gar nicht so ernst zu nehmen sind, wie man's vielleicht manchmal allzugerne haben möchte.


Kann sie sich auch mit der Weltanschauung einiger ihrer Gäste nicht ganz konform erklären, so läßt sie sich doch nie zu einer Beleidigung hinreißen. Und wenn Berufsrevolutionär Scharlau zum viertenmal seinen Brunftschrei: "Siegreich sind die Lehren des Genossen Mao", ausgestoßen hat, reagiert sie gelassen.


Sie meint dann vielleicht: "Trotzdem wünsch ich ihm nichts Böses. Ich kann nur hoffen, daß eine gute Frau seinen Klaps eindämmt." Es ist also bekannt, daß Frau Widmer ein großes, weites, mildes Herz hat. Das bedeutet natürlich keineswegs, daß sie in bestimmten Situationen nicht barsch und knapp reagieren könnte. Verirrt sich mal ein Radauflegel oder ein Alkoholhysteriker in ihre Stube, dann zündet in ihren Augen Mißmut.


Wer sie aber im Fasching noch nicht erlebt hat, kennt die Meli nur recht unvollständig. Man muß sie einfach gesehen haben, wenn sie einen rassigen Fox hinlegt, genaue Pirouetten dreht, Clownerien abzieht und als Finale ihre Beine zu einem einwandfreien Spagat auseinanderschleudert. Und das mit Fünfzig. Ihre komödiantisch-tänzerische Begabung freilich kommt nicht von ungefähr.


Ihr Vater gehörte zur ältesten Stuttgarter Schaustellerfamilie. Als sie noch kaum über den Ladentisch schauen konnte, lud sie in der Schießbude die Gewehre, war am Karussell Kassiererin und machte Showeinlagen an der Steilwand. Mit neun Jahren trat sie ins Ballett des Stuttgarter Staatstheaters ein. Mit 17 Jahren wechselte sie in das russische Arkoff-Barwilova-Ballett über und wurde Spitzentänzerin im Czardas.


Dann setzte ein schwere Zeit ein. Zunächst wog sie in einem Fertigteillager Schrauben ab. Da sie die Fabrikluft nicht ertragen konnte und wollte, sinnierte sie nach einem Trick, aus dieser unangenehmen Situation herauszukommen. Sie ließ sich mehrmals auf dem Gang zu Boden fallen und hörte auf zu essen. Die Meinung des behandelnden Arztes: "Diese Arbeit ist für diese junge Frau eine Zumutung." Bei der Stellungsuche hatte sie Glück. Sie wurde Briefkastenleererin und genoß die gewünschte frische Luft, da sie die Strecken mit einem 750-ccm-NSU-Motorrad zurücklegte.


Kurz nach 1945 wurde ihre Mutter schwer krank. Sie brauchte einen einträglichen Job und ging als Verkäuferin von Waschmaschinen und Fernsehgeräten. Damals fing der Wunsch nach einem Lokal in ihr zu knospen an. Sie verdingte sich als Bedienung in den Siedestuben, sparte, und 1963 war es soweit. Frau Widmer zog in die Leonhardstraße 5 ein. Die verpachtende Familie Döttling war froh, daß eine Schwäbin und eine "anständige Frau" die Wirtschaft übernahm. Meli hatte auch versprochen, ein "anständiges Lokal" zu führen . Und die Familie Döttling kann bis auf den heutigen Tag zufrieden sein. Im Lokal geht es anständig zu, und trotzdem ist ein Atmosphäre da, in der es sich leben läßt.


Hans Fröhlich am 8. 11. 1969 über das Lokal, das er 1988 selbst übernehmen sollte.

 

 

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